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Veit-Peter Walther: Die Anzeige

Vielleicht ist das eine Lösung, denkt Albert, als er im Wochenblatt unter Verschiedenes liest: „Pianola zu verschenken“

Albert wählt die angegebene Nummer. „Ja, es ist noch zu haben“, hört er eine Frauenstimme. Eine Stimme, die ihm gefällt. „Es ist aber sehr alt, das Pianola, sehr verstimmt, sehr schwer und im 4. Stock. Außerdem wohne ich weit draußen“, sagt die Frauenstimme weiter. „Kein Problem, ich habe Zeit“, sagt Albert. „Morgen wäre mir genehm“, schlägt sie vor. „Perfekt, mir auch“, sagt Albert. „Dann also“, sagt die Frau mit der angenehmen Stimme. „Also dann“, antwortet Albert.

Dies alles geschah gestern. Heute ist also das vereinbarte Morgen.

Albert zieht den dunklen Anzug und Mantel an. Erst fährt er mit dem Bus, dann mit der Straßenbahn, letztlich geht er den Rest zu Fuß. Es ist wirklich weit draußen. Sehr weit sogar. Es regnet, ein kalter Wind treibt Laub und Papierfetzen vor sich her. Zu sehen sind nur Pfützen, Hundehalter und einsame Alte mit Stöcken. Die Zypressen am Rand der Allee verharren tief gebeugt. So muss sich ein Sturm am Meer anfühlen, denkt Albert, der weder Hut noch Schal trägt. Ich war noch nie am Meer. Kenne weder Flut noch Ebbe, schon gar nicht den Geschmack von Salz auf der Haut. Hat sich bisher nicht ergeben.

Endlich steht er vor einer Mauer, vor einer Hecke, vor einem Garten, vor einem Haus. Vor einem alten, großen, dunklen Haus. Er geht durch das offene Tor, den bemoosten Kiesweg entlang bis zur Haustüre. Was er sieht, verwundert ihn. Hier gäbe es Geschichten zu erzählen, denkt Albert. Krüppelfichten, gesprungene Gewächshausscheiben, verwilderte Obstbäume, blinde Fenster, schräg hängende Fensterläden zwischen wucherndem Efeu, Putz und Farben von besseren Zeiten zeugend, zerfressen von den Gezeiten. Hier wachsen keine Blumen, hier sprießt der Untergang, denkt er.

Albert zieht dreimal an einer Glockenschnur. Die Türe ist angelehnt. Er tritt ein. Stille Leere empfängt ihn im Flur. Er bemüht sich, nicht hinzuhören. Irgendwie riecht es auch so, denkt Albert. Er steigt über vier steile, ausgetretene Treppen. Oben beugt sich eine Frau unbestimmten Alters weit über das Geländer. Sie hat ein edles, ein wenig trauriges Gesicht mit einer Andeutung von Leiden. „Hoffentlich stürzt sie nicht“, denkt Albert. „Schön, dass sie gekommen sind“, ruft sie ihm zu. Die Telefonstimme, wie angenehm, denkt Albert. Er folgt ihr in die Wohnung. Eine derartige Wohnung hab ich noch nie gesehen, denkt Albert.

„Haben sie eine derartige Wohnung schon mal gesehen“, fragt die Frau. „Noch nie“, sagt Albert. „Vom Speicher aus kann man manchmal das Meer sehen“, sagt die Frau. „Das hätte ich nicht gedacht“, sagt Albert. „Dort kann ich stundenlang aufs Meer schauen, obwohl es hier gar kein Meer gibt“, sagt die Frau. „Wie finden sie das?“ „Interessant, jedoch nicht ungewöhnlich“, sagt Albert. „Die Aktiven träumen vom Gebirge, die Melancholischen vom Meer.“

„Woher wissen sie ...? Das waren stets die Worte meiner Mutter“, sagt die Frau. „Tut mir leid, ich ahnte ja nicht ...“, sagt Albert. „Macht doch nichts“, sagt die Frau, „doch nun zum Pianola.“ „Oh, das ist ja riesig“, sagt Albert. „Das schaffe ich wohl kaum nach unten.“ „Ich weiß“, sagt die Frau. „Schade, wirklich schade“, sagt Albert. „Was nun?“, fragt die Frau. „Ja also“, sagt Albert. „Einen Tee“, fragt die Frau mit dem weichen Anflug einer Zufriedenheit im Lächeln. „Einen Tee, sehr gerne“, sagt Albert und zieht seine nassen Schuhe aus.

Draußen wird es dunkel.

Mai 2015

 
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