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Damaris Meyer: Tausendschön

"Hörst Du, Tausendschön, was Deine Mama Dir erzählt?"
Ich bewege mich nicht, lausche nur der Stimme. Jetzt klopft die Hand der Stimme sacht an meine Höhle. Schnell drücke ich meine Füße gegen die Wand.
Die Stimme lacht: "Du beulst mich aus! Willst Du schon geboren werden? Warte, Kleines, bald ist es so weit!" Die Hand streichelt meine Füße.
Ich fühle mich warm und weich. Die Stimme singt und meine Höhle schaukelt im selben Rhythmus.
Ich schlafe ein und träume von der Stimme. Funkelnd umfließt sie mich warm und süß.

Der Daumen flutscht aus meinem Mund und ich bin wach. Mir ist so heiß! Die Schnur pumpt heftig Blut in mich hinein. Die Stimme tönt schrill: "Hallo, ich brauche den Krankenwagen, schnell! Ich bekomme ein Kind! Ich blute!"
Die Wände meiner Höhle bewegen sich auf mich zu und drücken mich kopfüber nach unten. Hilf mir, Stimme! Die Stimme schreit: "Oh Gott, schnell! Es kommt, Wehen!"
Der Druck lässt nach. Ich habe wieder Platz. Hastig trinke ich. Das Wasser brennt in meinem Hals.
Warum schmeckt es nicht süß? Ich werde hin und her geschüttelt. Die Stimme schnauft und weint.
Ich schnappe nach dem Wasser, es strömt aus meiner Höhle. Die Wände schieben mich ihm nach.
Ich habe Angst! Warum hilft mir die Stimme nicht? Sie schreit: "Oh Gott, was, was? Das Fruchtwasser! Oh, nein!" und "Endlich!"
Andere Stimmen, fremde Geräusche. Die Hand stützt meine Höhle, trotzdem wackelt alles. Ein lauter Ton windet sich auf und ab. Immer wieder dieser Druck. Dann noch mehr Stimmen und Geräusche. Irgendetwas kühlt meine Höhle.
"Die Herzfrequenz des Babys ist zu hoch. Versuchen sie sich zu beruhigen. Es ist alles in Ordnung. Wir leiten jetzt die Geburt ein und bis Mittag haben sie beide es geschafft."
"Ja, okay, gut", antwortet die Stimme.
"Atmen sie tief und gleichmäßig! Sie bekommen ein Spasmolytikum. Es wirkt beruhigend und entspannend."
Das Blut in mir fließt langsamer. Ich bin völlig erschöpft, stecke mir den Daumen in den Mund und schlafe ein. Ich träume von Höhlenwänden, die mich in süßes Wasser drücken. Stimmen schwirren um mich herum. Ich suche die Stimme, aber...

Ich wache auf. Dieser Schmerz, dieser Druck, diese Enge. Die Stimme schreit. Ich will auch schreien! Und dann schreie ich. Ich bin raus, aber wo bin ich? Licht blendet mich. Ich friere und ich schreie. Ich bin eine Stimme!
Hände halten mich, hüllen mich in etwas Warmes und Weiches. Sie tragen mich zu der Stimme. Behutsam nehmen mich ihre Hände, legen mich auf ihre Haut. Sie ist feuchtwarm und duftet wie meine Höhle. Ich schreie nicht mehr, halte ganz still.
"Hallo Tausendschön! Ich bin Deine Mama, Deine Mama!"
Meine Mama! Sie weint und schiebt mir etwas Weiches in den Mund. Es fühlt sich viel besser an als mein Daumen. Es schmeckt so süß, viel süßer als das Wasser. Ich schlafe ein und träume von dieser Süße.

Mai 2013

 
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