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Damaris Meyer: Brückenbauer

Marie bohrt ihre Fersen in die Flanken des Pferdes und setzt zum Sprung an, über den Felsen. Luft festigt sich. Kurt. Er fliegt ihr entgegen, ohne Gleitschirm. Lockend ruft er: "Komm!"
Marie fällt.

Piepsen gellt in ihren Ohren. Wecker, geht nicht aus.
Metallenes Klicken, Luftzug, hastige Schritte, murmelnde Stimme. Hände ziehen an Armen und Beinen, verdrehen ihren Kopf, drücken gegen Schulter und Hüfte.
Marie fliegt, wohin fliegt Marie? Angstschrei implodiert zu Brei, quillt in Mund und Nase. Kaltes Plastik sticht in Maries Nasenloch, schiebt sich in den Rachen und saugt schmatzend zähen Schleim weg. Plastik wird unter ihre Nase über die Ohren bis hin zum Kinn gelegt, festgezurrt. Luft blubbert in ihre Lunge, ihr Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig.
Schritte entfernen sich.
Die Nase juckt, Marie sucht ihre Hand zum Kratzen.
Tür schließt sich.
Marie sucht eine Hand, die Nase juckt! Sie juckt, dass ihr die Augen tränen.

Kurts Hand kitzelt ihre Nase mit Gänseblümchen. Marie muss niesen. Sie lacht und balgt sich mit Kurt im Gras. Kurts spröde Lippen auf ihrem weichen Mund, der sich gern seiner Zunge öffnet.
Kurts Hände liebkosen ihren Hals, ihre Brust.
Marie zittert: "Kurt, mir ist so kalt!"
"Komm Marie, ich bring Dich rüber, ans andere Ufer. Du musst nicht frieren."
Strahlend nimmt Marie seine Hand. Kurt lässt sein Lachen klingen. Es trägt sie über die Wiese zum Felsen am goldenen Fluss.
Mutter winkt zum Abschied.
Vater streckt die Hand nach ihr aus: "Komm zurück!" Seine Stimme heult, wird zur Sirene.

Laut: "Defi!"
Eisige Götterspeise presst sich auf Maries nackte Brust.
Lauter: "Weg vom Bett!"
Ihre Muskeln ballen sich zur Faust, werfen Marie in die Luft. Schmerz flutet ihren Körper. Lärm zerfetzt ihre Ohren. Hände, die Nadeln und Schläuche in sie schieben.
Laut: "Schwacher Puls, wir haben sie! Weiter beatmen und Verlegung auf Intensiv! Ich sag den Eltern Bescheid!"
Maries Bett dreht sich, wird zur Achterbahn.

"Bitte, bitte Mami! Bitte lass mich Achterbahn fahrn! Nur einmal!"
"Nein, Marie! Du weißt doch, der Papa hat's verboten! Du bist noch viel zu klein dafür!"
"Aber, weißt Du was, Mamilein? Ich sag's den Papa nicht, bitte, bitte!"
"Nein, Marie! Das ist zu gefährlich für kleine Mädchen."
"Warum, waru-hum?"
"Du könntest raus fallen, Marie!"
"Bin ich dann tot?"
"Ach, Marie, wo hast Du das denn her!"
"Papa hat gesagt, man kann sich tot fallen."
"Nein, so was sagt der Papa doch nicht!"
"Doch, hat er! Papa hat gesagt, wenn ich mit Kurt so wild tobe, wird sich noch einer tot fallen."
"Ach Marie, das sagt man so. Das verstehst Du noch gar nicht! Komm, ich geh mit Dir zur Schiffschaukel!"
"Mama, was, was, oh Schiffschaukel fetzt! Mama, da ist Kurt! Kurt! Fährst Du mit mir Schiffschaukel?"

Schiffschaukel schlingert durch die Geisterbahn.
Papa schluchzt: "Lass uns nicht allein, Marie! Kleine, Du darfst uns nicht verlassen, hörst Du! Alles wird gut, verlass uns nicht! Ich..."
Mama weint, hält Maries Hand.
Fremde Stimme, sehr ernst: "Kommen sie bitte, ich möchte mit ihnen sprechen!"
Schritte verlassen sie. Marie ist allein mit den stöhnenden und schmatzenden Geräuschen. Sie will weg, zu Kurt!

"Kurt, was willst Du mal werden, wenn Du groß bist?"
"Pilot!"
"Warum?"
"Weil, dann kann ich fliegen in der Luft!"
"Ich, ich werd dann Pilotin, dann fliegen wir zusammen, wie in der Schaukel!"
"Mädchen können das nicht!"
"Das ist doof! Warum?"
"Weil, Mädchen werden Stuardressen."
"Gut, dann eben das! Kurti, bist Du schon mal Achterbahn gefahrn?"
"Klar, schon mindestens hundert und tausend mal."
"Und wie ist das?"
"Cool!"

Kalt! Stille. Warme Hände streicheln.
"Liebes", weint Mama, ich lass Dich."
"Meine kleine Marie, mein Schatz, ich war, bin so sehr gern Dein Papa, aber ich lasse Dich auch."
Maries Wimpern zittern, die Lider schieben sich ein paar Millimeter nach oben und sacken bleiern zurück. Ihre Lippen zucken, Maries Mund bleibt stumm.
"Darf ich zu Kurt, zur Achterbahn?"
"Liebling, hab keine Angst, Du darfst gehen."
"Bis bald.“

"Kurt, weißt Du was? Ich darf mit der Achterbahn fahrn!"
"Komm Marie, wir fliegen mit der Achterbahn zum goldenen Fluss."
"Zum goldenen Fluss und dann?"
"Und dann, Marie, dann baue ich Dir eine Brücke darüber, bis ans andere Ufer."

Juni 2013

 
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