Autorengruppe Ibis
 
Autorengruppe IBIS
Lesungen und Preise
Texte der Mitglieder
Mitglieder
Impressum
Datenschutzerklärung

Lothar Fiegen: Bis jenseits der Weißglut

Eigentlich bin ich kerngesund. Zehn Jahre hat mich kein Arzt zu Gesicht bekommen. Jetzt sollte ich aber doch mal hin zu einem – wegen dieser Schmerzen in der Brust.

Aber eine Arztpraxis, wie man sie früher hatte, die gibt es ja heute nicht mehr. Ich müsste zu einem dieser neuen Diagnose- und Therapie-Zentren.

Ein Mann kurzer Entschlüsse fackelt nicht lange. Und so stehe ich am nächsten Tag vor einem geduckten Bau in der Chrysanthemenstraße. Wäre der nicht unschuldig weiß getüncht, er würde meinen Schritt hemmen. „DiaThep-Unit Hasenbergl“ steht angeschrieben. Ich bin richtig.

Mein Herannahen lässt eine Tür aufschwingen. Und drinnen kahle Wände, weiß wie draußen auch. Keine Rezeption, keine Menschenseele.

Zwei Barrieren mit je einem Kasten daneben. Der linke Kasten ist rot beschriftet: „Notfälle hier!“ Ich bin doch kein Notfall, also wende ich mich an den anderen. Der hat mich schon erwartet: „Guten Tag! Herzlich willkommen!“ In Sprache und Schrift kümmert er sich. „Bitte führen Sie Ihre Patientenkarte in den markierten Schlitz ein! Und haben Sie etwas Geduld!“

Kaum steckt die Karte im Kastenbauch, da läutert sich eine Wand zum Riesenbildschirm. Eine Menschengruppe darauf – weiß bekittelt und hierarchisch sortiert – freut sich augenscheinlich auf mich.

„Guten Tag, Herr Neumann, herzlich willkommen in der Diagnose und Therapie-Unit-Hasenbergl.“ Das sagt der Weißhaarige im Vordergrund, einer mit allwissender Ausstrahlung. Flankiert wird er von anderen Weißkitteln, typische Utensilien weisen sie als Fachkräfte aus: Einem baumeln Teile eines Blutdruckmessgerätes aus der Kitteltasche, der andere hat ein Stethoskop am Hals. In gebührendem Abstand: strahlende Helferinnen. Mein Brustschmerz ist noch da, hat sich nicht verflüchtigt angesichts solch geballter Kompetenz.

Seine Gerätschaft – der Kasten – gibt sich die Ehre: „Nehmen Sie bitte Ihre Karte aus dem Gerät sowie den ausgedruckten Fragebogen. Begeben Sie sich dann durch die weiße Tür in den Erfassungsraum und füllen den Bogen sorgfältig aus!“ Ein Kugelschreiber liegt bereit. Seine Farbe ist weiß, wen wundert es? Die Brust schmerzt weiter.

Wieder wartet ein Kasten, dieses Mal steht er rechts, schluckt den Fragebogen. „Im Gerät zu Ihrer Linken wird Ihr Behandlungsprogramm in wenigen Minuten ausgedruckt“, flötet die Blechstimme. „Benutzen Sie die Zeit, um Ihre Praxisgebühr zu zahlen. Bargeld in den Schlitz oben rechts, bei Abbuchung von Ihrem Konto bitte die grüne Bestätigungstaste drücken.“ Es folgt die Bitte um etwas Geduld.

Geduld heißt: Zeit opfern. Die wird hier ausgefüllt mit Informationen. Das besorgt wieder ein Riesenbildschirm.

Statt der Mediziner machen sich jetzt Musiker auf der Wand breit. Ein Schriftband läuft: „Grease – Nur noch wenige Tage! Tickets im Büro der Hauptverwaltung!“ Mag ja ganz schön sein, aber gegen meine Schmerzen wird das nicht helfen.

„Bitte“, steht auf der von dem Gerät ausgespuckten Karte, „begeben Sie sich in den Raum B an Platz 2 und führen Sie eine Blutdruckmessung durch! Machen Sie dazu den linken Arm frei und stecken Sie denselben durch die blaue Schlaufe, bis das grüne Signal aufleuchtet.“ Ich soll im Übrigen die Karte pfleglich behandeln und auf keinen Fall knicken. „Danach gehen Sie zur Blutentnahmestelle 1 im selben Raum und warten Sie weitere Anweisungen ab!“

Die Blutdruckwerte unterliegen einem so massiven Datenschutz, dass selbst ich sie nicht erfahre. Aber nun wird sicher eine hübsche Schwester kommen und mir Blut abnehmen oder gar nach meinen Schmerzen fragen. Aber – nichts dergleichen geschieht!

Kaum sitze ich auf dem angewiesenen Platz und mein linker, freigemachter Arm liegt in einer Schale, da bedroht auf dem Bildschirm vor mir eine Frau einen Mann mit der Pistole, wobei ein Schriftband den Titel dieses sehenswerten Streifens verrät.

Unterdessen ist eine Sonde herangefahren und nimmt meine Armbeuge aufs Korn. Just in dem Moment, als die Frau den Mann erschießt, bohrt sich die Sonde in meinen Arm und beginnt, Blut abzuzapfen.

Eine beruhigende Stimme bettelt um Stillhalten, schiebt noch den Hinweis auf das Fremdenverkehrsamt einer besonders erholsamen Ferienregion nach. Dann soll ich die Einstichstelle mittels eines bereitliegenden sterilen Päckchens der Marke Mullmann zwei Minuten lang drücken.

Jetzt wird es mir langsam unheimlich: „Hier liegt aber nirgendwo ein Mullpäckchen!“, versuche ich mir Gehör zu verschaffen. Der Clip auf dem Bildschirm übertönt meine Worte geflissentlich. Als der endet, brause ich erneut auf: „Ist hier eigentlich irgendjemand, der mich hört?“ Mag ja sein, dass es den gibt, aber der oder die gibt sich nicht zu erkennen. Nirgendwo eine Ruftaste, mit der ich Verbindung aufnehmen könnte. Der Schmerz in meiner Brust hat zugenommen. Danach fragt keiner.

Die vorher eingeführte Patientenkarte schwebt mir noch in den Schoß und verrät, dass ich durch die rote Tür zurückgehen und dann in den Raum „U“ (gelbe Tür) betreten soll. Kabine 3 stünde für die Urinspende bereit. Na gut, da kann ja wohl nichts Schlimmes passieren, das werde ich noch machen. Aber dann will ich endlich einen Arzt sehen.

Nachdem ich meine Karte in den Kasten gesteckt habe, stellt sich diese Prozedur als ausgesprochen harmlos heraus. Schließlich wird das Geschäft begleitet von einem Videoclip: Die Niagarafälle als Reiseziel kann ich ein einem Reisebüro in der Hauptverwaltung schon ab 1.999,- Euro buchen. Wo meine Flüssigkeit hinfließt und wo sie analysiert wird, solche Fragen haben hier keinen Platz. Das Harnlassen hat aber den Brustschmerz auch nicht gelindert.

Als nächstes ist für mich eine Röntgenaufnahme vorgesehen. Aha, das ist vielleicht nützlich, das werde ich auch noch machen. Ich gehe dazu durch die graue Tür „X“, mache wie angezeigt meinen Oberkörper frei, und stelle mich auf dem Punkt A in Positur. Während sich auf einem Bildschirm zwei Außerirdische über den kürzesten Weg zum Planeten Erde unterhalten und ein Schriftband einen Kinobesuch nahelegt, fährt ein Riesenkasten mit Bildschirm auf mich zu und verlangt: „Ihre Patientenbeteiligung beträgt 20 Euro. Sie wird von Ihrem Konto bei der Stadtsparkasse abgebucht. Bitte berühren Sie den Bildschirm zum Zeichen ausreichender Kontodeckung!“

Was? „Moment mal! Verdammte Abzocke! Kommt ja überhaupt nicht in Frage!“

Unwillig stoße ich den Kasten von mir weg. Der federt aber zurück. Gerade noch rechtzeitig winde ich mich aus der Umklammerung, nicht ohne dem Bildschirm in meiner Wut noch einen kräftigen Stoß zu versetzen. Der fasst das auch noch als Bestätigung auf: „Vielen Dank für Ihre Beteiligung! Ihr Elektrizitätswerk!“

Die Apparatur hat wohl von meiner aufkeimenden Weißglut überhaupt keine Notiz genommen. Jetzt verlangt sie auch noch absolutes Stillhalten. Mir stockt der Atem. Zum Dank summt sie ganz kurz und fährt dann wieder in seine Ecke. „Vielen Dank für die Messung. Bitte legen Sie Ihre Kleidung wieder an!“

Wie komme ich hier wieder raus? Ich werde laut: „Das geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu. Bin ich hier bei Vorsicht Kamera? Ich will jetzt sofort einen Arzt sehen, verdammt noch mal!“

Die Tür, durch die ich reinkam, lässt mich nicht wieder raus. Beim Berühren des Knopfes quäkt es: „Bitte gehen Sie durch die grüne Tür zum EKG! Sie werden dort erwartet.“ Es ist zum Verzweifeln. Notgedrungen schleppe ich mich, gekrümmt vor Schmerzen, zu diesem einzig offenen Schlupfloch.

Gleich rüber zu der gegenüberliegenden Türe! Raus aus dieser seelenlosen Gerätehölle! Auch hier: Tür verschlossen. „Wir haben Ihr EKG noch nicht gemacht. Das brauchen wir, um Ihnen helfen zu können. Bitte, machen Sie den Oberkörper frei und legen Sie sich flach auf den Rücken!“

„Nein! Verflucht nochmal, nein!“ Jetzt werden die Schmerzen unerträglich, in der Brust brennt und sticht es teuflisch. Ich reiße mir die Kleider vom Leib, stürze auf die einzige Liege im Raum, kralle mich verzweifelt daran fest. „Hilfe! So helfe mir doch jemand! Hiiilfe!“

Mir ist so, als falle was auf meine Rücken und sauge sich fest. Es sticht noch einmal unsäglich in mir, dass es mir die Sinne raubt.

Jetzt habe ich einen Körper ohne Schmerz. Da unten liegt er. Aus dem Gesäß ragen zehn Sonden mit ihren Kabeln. Auf einem Monitor leuchtet eine Schrift: „Schwerer Ausnahmefehler.“ Ein anderer Bildschirm meldet: „Keine Herztätigkeit messbar.“

Die Maschine hat Recht.

 

2005

 
 www.ibis-gruppe.de    (©) Lothar Fiegen     Mail an den Webmaster